Detailaufnahme Textilien

Was uns die Heiligen Häupter über die Geschichte der Textilien verraten

Einige Seidengewebe an den Heiligen Häuptern stammen aus dem 14. Jahrhundert und werden in die italienische Stadt Lucca verortet. Welche Textilien noch an den Häuptern zu finden sind und was so besonders an ihnen ist, erfahren Sie hier in diesem Beitrag.

Von George Timm und Benita Fischer / Teaserfoto: Maria Daubach

Im Jahr 2013 wurden aus einer Nische in der Munsterkerk in Roermond 45 Heilige Häupter geborgen und nach Köln transportiert. Diesen Häuptern widmen sich nun die Studentinnen des Studiengangs „Konservierung und Restaurierung von Textilien und archäologischen Fasern“ an der TH Köln unter der Leitung von Prof. Dr. Nicole Reifarth als Studienprojekt.

Die Heiligen Häupter bestehen aus Knochenfragmenten, die durch diverses Füllmaterial und mehrere Lagen an Textilien zusammengehalten werden. Die Textilien wurden per Hand miteinander vernäht und verziert, um den Reliquien eine schmückende Wirkung zu verleihen. Die verarbeiteten Knochen werden einer Gruppe von Märtyrerinnen zugeordnet, die mit der Legende der Heiligen Ursula von Köln in Verbindung gebracht werden.

Welche Textilien befinden sich an den Häuptern?

„Wir haben noch nicht alle Häupter im Detail untersucht“, sagt Nicole Reifarth zu Beginn. Daher könne sie zum aktuellen Zeitpunkt nur die Textilien und Gewebetypen nennen, die sie bereits identifiziert haben. Gewebeanalysen wurden noch nicht durchgeführt. Einige Textilien konnten laut Nicole Reifarth bereits durch die Webart und mikroskopische Untersuchung erkannt werden. 

Die äußeren Lagen der Häupter bestehen oft aus einfarbigen Seiden- oder einfachen Leinengeweben. Im Laufe der Jahrhunderte wurden die Häupter immer wieder neu mit Textilien überfasst, um das Erscheinungsbild der jeweiligen Zeit anzupassen. In den inneren Lagen konnten auch vermehrt gemusterte Seidengewebe identifiziert werden, die durch die äußeren Lagen geschützt werden. Diese Seiden lassen sich laut der ersten Untersuchung durch die frühere Projektleiterin Prof. Dr. Annemarie Stauffer nach Italien in die Stadt Lucca, in das 14. Jahrhundert, verorten.

Außerdem wurden bereits Leinengewebe mit Weißstickereien und bedruckte Stoffe an den Häuptern entdeckt und identifiziert. An fast allen Häuptern befinden sich zudem Verzierungen und Posamente, auf die später im Text nochmals eingegangen wird. Wenige Häupter sind zudem mit Haarnetzen geschmückt. Von solchen Haarnetzen sind nur wenige überliefert, weshalb es sich hierbei um eine Besonderheit handelt.

Gewebearten der Textilien an den Häuptern

Gewebe: Gewebe können ganz unterschiedlich aufgebaut sein, je nach Aufbau werden sie auf verschiedenen Webstühlen hergestellt. Ein Gewebe besteht aber immer aus mindestens zwei Fadensystemen. Diese sind in Kette und Schuss unterteilt. Bei der Kette handelt es sich um viele, ganz lange Fäden, die im Webstuhl eingespannt sind, und in Längsrichtung verlaufen. Der Schussfaden wird waagerecht im gewünschten Muster in die Kette eingetragen, d.h. der Schussfaden verläuft über und unter den Kettfäden. Gewebe werden in verschiedene Bindungsformen (Gewebetypen) eingeteilt. Es gibt drei Grundbindungen (Leinwandbindung/ Köperbindung/ Atlasbindung) aus denen einfache oder sehr komplexe Gewebe aufgebaut sind. Die verschiedenen Bindungsarten können auch miteinander kombiniert werden.  

Leinwandgewebe: Die Leinwandbindung (Grundbindung) ist die einfachste Bindungsform. Kette und Schuss wechseln sich ab. Der Schuss geht immer über und unter einen Kettfaden. Beide Fadensysteme verlaufen rechtwinklig zueinander. Wenn die Grundbindung abgewandelt wird, können vielseitige Gewebe entstehen. Zu den Leinwandbindungen gehören zum Beispiel Taft, Batist, Canvas und Panama. Diese Stoffe können aus unterschiedlichen Materialien hergestellt werden, z.B. Baumwolle, Seide, Hanf, Leinen oder Polyester. Je nachdem, welches Material verwendet wurde, hat der Stoff unterschiedliche Eigenschaften (glatt, glänzend, durchscheinend, fest, weich).

Canvas: Ist ein fest gewebter Stoff aus starkem Garn. Dadurch ist Canvas robust und strapazierfähig. Kann aus Baumwolle, Leinen oder Hanf hergestellt werden. Wird heutzutage auch oft mit verschiedenen Kunstfasern gemischt.

Taft: Ist ein dichtes, matt glänzendes, leinwandbindiges Gewebe meist aus Seide oder synthetischen Fasern mit dichter Ketteinstellung

Batist: Ist ein leichtes, feines, durchscheinendes Gewebe mit weichem Griff. Vorwiegend aus Baumwolle oder Leinen.

Flachs – die älteste bekannte Textilfaser

Leinengewebe, auch Flachsgewebe genannt, sind nach heutigem Kenntnisstand die ältesten Textilfasern der Menschheitsgeschichte. Ein Fund von wilden Flachsfasern in der Dzudzuana-Höhle in den Ausläufern des Kaukasus in Georgien soll etwa 30.000 Jahre alt sein (Quelle 5). Dabei handelt es sich um Naturfasern, die aus der gleichnamigen Pflanze (Flachs = Linum usitatissimum) gewonnen werden. Die Fasern sind ringförmig im Stängel der Pflanze angeordnet und können nach einem bestimmten Aufbereitungsprozess, der sogenannten Flachsrotte, extrahiert und zu einem Faden versponnen werden.

Neben dem Flachs gehört die Baumwolle zu den pflanzlichen Textilfasern, die am häufigsten verwendet werden. Dabei handelt es sich um Samenfasern, die aus Samenkapseln der Baumwollpflanze (Gossypium) gewonnen werden. „Nach gewisser Zeit öffnet sich die Samenkapsel und es kommt eine Art Watte zum Vorschein“, beschreibt Nicole Reifarth. Diese „Watte” muss dann ebenfalls zu einem Faden versponnen werden.

Eine Übersicht von pflanzlichen und tierischen Fasern, die zur Herstellung von Textilien verwendet werden. Quelle: https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/paulinus_blog_6

Aufgrund dieser Spinntechnik kann man bei älteren Textilien meist sehr einfach zwischen den beschriebenen pflanzlichen Fasern und Seide unterscheiden. „Seide kann man unter dem Mikroskop viel besser erkennen, weil die Fäden häufig gar nicht versponnen sind“, so Reifarth. Daher kann das Projektteam schon mit großer Sicherheit sagen, dass Seide an den Häuptern verwendet wurde. Flachs und Baumwolle haben nur eine bestimmte Faserlänge, daher müssen sie versponnen werden, um einen endlosen Faden herzustellen. „Bei der Seide ist das nicht notwendig“, erklärt Reifarth.

Seide – die Faser der chinesischen Elite

Im Gegensatz zu Flachs und Baumwolle ist Seide nämlich kein pflanzliches, sondern ein tierisches Produkt. Die Seidenfaser stammt vom Kokon der Maulbeerspinner – eine Schmetterlingsart, die früher besonders in China beheimatet war. „Die Zucht der Raupen war lange den Chinesen vorbehalten und ist erst im 5. Jahrhundert nach Europa gekommen, vorher wurden Seiden immer nur importiert“, ordnet Reifarth ein.

Die Raupe des Schmetterlings wird also gezüchtet und nach der Verpuppung in heißes Wasser geworfen. Dabei stirbt die Raupe und der Kokon bleibt zurück – inklusive der toten Raupe im Inneren. Von diesem Kokon kann dann ein feiner Faden abgewickelt werden, der mehrere Kilometer lang sein kann. Deshalb müssen Seidenfäden nicht versponnen werden.

Kokons Seidenraupe
Kokons des Maulbeerspinners in einer Detailaufnahme / Foto: Pixabay

Laut archäologischen Funden reicht die Seidenproduktion in China bereits in das 3. Jahrtausend vor Christus zurück. Erst im frühen Mittelalter konnten Maulbeerspinner dann auch in Europa gezüchtet werden. „Die Raupe ist sehr empfindlich und braucht das richtige Klima“, erklärt Nicole Reifarth. Daher war Seidengewebe in Europa lange Zeit sehr teuer und hauptsächlich der Elite vorbehalten. Auch die Seidengewebe an den Heiligen Häuptern hatten also zum Zeitpunkt der Herstellung einen hohen Wert.

Einfache Bürger mussten demnach auf pflanzliche Materialien oder auf Wolle zurückgreifen. „Wolle kann man von jedem Tier herstellen, das Fell hat – es kann sogar der Mensch sein“, erklärt Reifarth. Daher gibt es zahlreiche unterschiedliche Wollarten – von Schafswolle über Angora (Kaninchen) zu Mohair (Ziege). 

Auch bei der Wolle müssen die Fasern wieder zu einem Faden zusammengesponnen werden. Insgesamt ist die Wolle aber etwas „jünger“ als die zuvor erwähnten Textilien. „Die Menschen mussten erst sesshaft werden, um Tiere züchten zu können. Daher stammen die ältesten Funde von etwa 3.000 vor Christus“, erklärt Reifarth. Ob auch Wollgewebe an den Häuptern zu finden sind, kann die Professorin noch nicht mit Sicherheit sagen, da die Materialanalysen noch ausstehen.

Die Verzierungen der Häupter

Wie bereits erwähnt, wurden die Häupter teilweise mit Haarnetzen und Posamenten verziert. Mehrere Häupter haben rosettenartige Motive, die von der Form und Position an Augen erinnern. „Das wurde sicher gemacht, damit man als Betrachter den direkten Bezug zu dem Märtyrer oder der Märtyrerin hat. Denn diese Reliquien sollen auf eine Person zurückgehen, von der diese menschlichen Überreste verarbeitet sind“, erklärt Reifarth. Die Verzierungen wurden aus Glasperlen, Metalldrähten, Pailletten und textilen Komponenten gefertigt.

Durch die Verzierungen wird zum einen die Reliquie verehrt und zum anderen soll durch die Anordnung auf den Inhalt der Reliquie hingewiesen werden. Dazu tragen auch die Haarnetze bei, die sich immer am hinteren Teil des Hauptes befinden. „Es gibt immer eine klare Vorderseite und eine klare Rückseite“, sagt Reifarth.

Die Haarnetze an manchen Heiligen Häuptern sind noch sehr gut erhalten / Foto: Sarah Leonie Harder

An manchen der Häupter befinden sich auch Kränze, diese könnten darauf hindeuten, dass es sich hierbei um Jungfrauen handelte. „Ursprünglich hatten die meisten Häupter Kränze auf, diese sind heute nicht mehr erhalten, lassen sich aber an den originalen kleinen Nadeln erkennen, mit denen die Kränze befestigt wurden“, so Reifarth.

Wie die Nische die Heiligen Häupter schützte

Grundsätzlich zerfallen Textilien mit der Zeit, daher ist es so außergewöhnlich, dass diese so gut erhalten sind. „In dem Schacht in Roermond war nicht mit großem organischem Verfall zu rechnen“, meint Reifarth. So waren die Häupter vor vielen äußeren Einflüssen wie Sonnenlicht, Witterung und Insekten geschützt. Auch das Klima soll passend und vor allem gleichbleibend gewesen sein. Schwankungen sind in der Regel eine Belastung für Textilfasern. Die Textilfasern quellen bei hoher Luftfeuchtigkeit auf und schrumpfen bei niedriger Luftfeuchtigkeit wieder. Daher sind solche Schwankungen sehr schädlich für  Textilien. 

Lichtgeschützt waren die Häupter in der Nische auch. Dadurch konnten die Textilien nicht so ausbleichen, denn insbesondere UV-Licht kann die Fasern ebenfalls zerstören. Allerdings sind die Farben der Gewebe an der Unterseite der Häupter deutlich kräftiger und besser erhalten, was darauf schließen lässt, dass die Häupter wahrscheinlich in der Kirche präsentiert wurden, bevor sie eingemauert wurden.

„Es sind aber nicht alle Textilien gut erhalten. Bei manchen Mischgeweben, die aus mehreren Materialien bestehen, kommt es häufig vor, dass nur pflanzliche Gewebe oder nur die tierischen Gewebe verfallen sind“, erklärt Reifarth. Die Ursache dafür

liegt im pH-Wert der Umgebung. In einem sauren Milieu erhalten sich vor allem Proteine, also Seiden- und Wollgewebe. Im basischen Milieu eher pflanzliches Material wie Flachs oder Baumwolle.

Historische Farbenpracht

„Um 1600 wurde im Zuge einer Überarbeitung mit Seidengeweben in Weiß, Blau und Rot ein einheitlicher Kanon geschaffen“, so Reifarth. Das lässt sich an den ähnlichen Geweben an unterschiedlichen Häuptern erkennen. Vermutlich wurde das gemacht, damit die Häupter als Gruppe wahrgenommen werden.

Weiß, rot, blau – die liturgischen Farben?

Liturgische Farben bezeichnen die Farben von Gewändern, Fahnen und Schmuck, die zu bestimmten Liturgien (offiziellen christlichen Gottesdiensten) genutzt und getragen werden. Weiß, rot und blau tauchen auch schon im alten Ägypten, im königlichen Kontext, auf. Inzwischen gibt es auch noch andere liturgische Farben.

Weiß gilt als die Farbe der Festlichkeit, der Klarheit, des Lichtes, der Reinheit und wird an Festtagen wie Weihnachten und Ostern getragen. Weiß ist zudem die liturgische Farbe für Feiern, in denen Sakramente gespendet werden, wie beispielsweise Taufen, Trauungen und Priesterweihen.

Rot erinnert an Blut und wird deshalb zum Gedächtnis von Märtyrern getragen. Zugleich ist die Farbe ein Symbol für das Feuer und ein Sinnbild des Heiligen Geistes.

Blau ist seit 1570 keine offizielle liturgische Farbe mehr. In der christlichen Kunst ist die Gottesmutter Maria oft in blauen Gewändern dargestellt. Die Farbe des Himmels, der Freiheit und Sehnsucht ist zu einem Sinnbild für Maria geworden.

„Bislang können wir noch nicht sagen, mit welchem Farbstoff die Stoffe eingefärbt wurden. Das ist ein Ziel für das nächste Semester“, erklärt Nicole Reifarth. Grundsätzlich gibt es zwei Kategorien:

  • Garnfärbung – dabei wird der Rohstoff, also die Fäden gefärbt,
  • Stückfärbung – dabei wird das komplett fertige Gewebe gefärbt.

Die Farbstoffe, die für die Färbung von Textilien verwendet werden, können unter anderem aus allen möglichen Pflanzen gewonnen werden. Beispiele dafür sind Waid und Krapp (Färberkrapp). Die Extrakte der Pflanzen ergeben dann eine Flüssigkeit, in die die Fäden oder die Gewebe dann eingelegt werden.
Neben pflanzlichen Farbstoffen gibt es auch tierische Farbstoffe. So wird Purpur zum Beispiel aus der Purpurschnecke gewonnen und Karminrot aus der trächtigen weiblichen Schildlaus.

Was die menschliche Laus mit der Geschichte der Textilien zu tun hat

Eine Laus spielt auch in der frühen Geschichte der Textilien eine wichtige Rolle: Die Kleiderlaus gibt Auskunft darüber, wann Menschen angefangen haben, sich zu kleiden – nämlich vor etwa 170.000 Jahren. „Die Laus hat sich genau zu dieser Zeit in zwei unterschiedliche Arten aufgeteilt – eine Kleiderlaus und eine Kopflaus“, erklärt Nicole Reifarth. Daher kann man aus dieser Aufspaltung schließen, dass Menschen zu dieser Zeit angefangen haben, sich anzuziehen.

Bis allerdings die ersten Textilien entwickelt wurden, hat es wohl noch eine Weile gedauert. „Von Textilien spricht man in der Regel dann, wenn Fasern aus einem Material extrahiert und verarbeitet werden“, erklärt Reifarth. Ein Geflecht aus Grashalmen wäre demnach kein Textil, da keine Fasern extrahiert werden. Auch frühe Kleidungsstücke aus Tierhäuten oder Fellen gelten nicht als Textilien. Der Begriff wird allerdings in der wissenschaftlichen Literatur teilweise sehr unterschiedlich definiert, sodass eine allgemeingültige Abgrenzung nicht möglich ist.

Die zeitliche Einordnung, wann Menschen angefangen haben, erste Textilien herzustellen, ist ebenfalls schwierig, da alle Erkenntnisse der heutigen Zeit nur auf archäologischen Funden beruhen. Der aktuelle Stand könnte also durch neue Funde wieder komplett auf den Kopf gestellt werden – es ist eben schwer, die Geschichte von hinten zu erzählen.

Für diesen Text haben wir, George Timm und Benita Fischer, die TAF-Studentinnen und Dr. Nicole Reifarth, Professorin für Konservierung und Restaurierung von Textilien und archäologischen Fasern, interviewt. Dabei wurde uns beiden Online-Redakteuren und Restaurierungs- bzw. Konservierungslaien die Arbeit rund um die Heiligen Häupter von Roermond erklärt. Grundlage ist zudem die Publikation von Annemarie Stauffer aus dem Jahr 2020 (Quelle 4). Sarah Harder hat den Text überarbeitet.

Quellen: