Ob ein Splitter vom Kreuze Jesu oder ein Tropfen Milch der heiligen Mutter Gottes, Reliquien waren begehrte Güter bei den Anhängern des Christentums. Dem Glauben nach haben sie heilsame Kräfte, können vor Gefahren schützen oder besondere Segen verleihen.
Von Lea Sophie Linder und Sarah Istel / Teaserfoto: Johanna Goebel
Vom Martyrium zur Reliquie: Die Geburt einer spirituellen Tradition
„Die Reliquienverehrung geht zurück ins frühe Christentum, entwickelte sich aber vor allem im Laufe des Frühmittelalters zu einem richtigen Boom“, beschreibt Prof. Dr. Hiram Kümper die Ursprünge der Reliquienverehrung. Er ist Historiker und lehrt Geschichte des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit an der Universität Mannheim. Bereits in den ersten Jahrhunderten wurden Überreste heiliger Personen oder Gegenstände als spirituelle Vermittler betrachtet.
Nach Kümper spielte vor allem die Christenverfolgung im 3. Jahrhundert eine wichtige Rolle in dieser Entwicklung. Tausende Christen wurden aufgrund ihres Glaubens ermordet – sie brachten für das Christentum das ultimative Opfer: den Tod. Aus Dankbarkeit für ihren Einsatz und um einen greifbaren Zugang zu Gott zu finden, wurden dann die Überreste dieser Märtyrer und Märtyrerinnen verehrt. Die erste bekannte Verehrung lässt sich auf die Reliquien des heiligen Polykarp von Smyrna aus dem zweiten Jahrhundert zurückführen.
Im 4. Jahrhundert begann Kaiser Konstantin, der das Christentum zur Staatsreligion erhob, mit dem Bau von Kirchen über Märtyrergräbern. Dadurch entstand eine hohe Nachfrage nach Reliquien, welche vor allem im Mittelalter einen regen Handel förderte. Die Reliquien dienten nicht nur als wichtiges Mittel zur Verbindung der Gläubigen mit der göttlichen Welt, sie zogen auch Pilger an. Außerdem hoben Feudalherren durch den Erwerb von bekannten Reliquien ihr Ansehen beim Volk und festigten so ihren Herrschaftsanspruch.
Glaubenskonflikte und religiöse Spannungen im Laufe der Zeit
„Es gab eine ganze Reihe an bedeutsamen Einschnitten in Laufe der Zeit“, sagt ümper. Einer der frühestenEinschnitte in der Geschichte der Reliquienverehrung manifestierte sich im 16. Jahrhundert während der Reformation im Ikonoklasmus, einer Bewegung, die die Zerstörung von religiösen Bildern, Denkmälern und Reliquien anstrebte.
Dabei kam es zum sogenannten reformatorischen Bildersturm, bei dem Gemälde, Skulpturen und Kirchenfenster, die Christus und andere Heilige darstellten, entfernt und zerstört wurden. Kümper erklärt, dass der ikonoklastische Ansatz auf der Vorstellung beruhte, dass die Verehrung solcher Bilder und Reliquien götzendienerisch sei, da sie den Glauben der Frömmigen auf den heiligen Gegenstand fokussierten und von der eigentlichen Gottesanbetung ablenken könnten.
Während der Reformation im 16. Jahrhundert lehnten einige protestantische Bewegungen die Reliquienverehrung ab, da sie diese als unbiblisch betrachteten. „Martin Luther betonte, dass man Heilige ehren und als Vorbilder betrachten könne, jedoch dürfe man sie nicht verehren. Dies sei ausschließlich der Trinität, also Gott, Jesus und dem Heiligen Geist, vorbehalten“, führt Kümper aus.
Eine weitere einflussreiche Bewegung gegen die Reliquienverehrung formte sich im 17. Jahrhundert in Belgien und Frankreich. Die Bewegung der Bollandisten, bestehend aus frommen Benediktinermönchen, machte es sich zur Aufgabe, die heiligen Legenden auf ihren Echtheitsgrad hin kritisch zu prüfen.
In ihrer Publikation “Acta Sanctorum” sprachen sie Empfehlungen darüber aus, welche Heilige aus dem Heiligenkalender entfernt werden sollten. Kümper beschreibt die Bewegung der Bollandisten als besonders interessant: „Das waren absolut keine Kritiker, sondern religiöse Menschen. Aber sie wollten den Glauben und die Reliquienverehrung auf ein neues Fundament stellen.“
Während der Aufklärung im 18. Jahrhundert geriet die Reliquienverehrung erneut heftig in die Kritik. Die Aufklärer betrachteten sie als abergläubisch und irrational und forderten, der Praxis ein Ende zu bereiten. Die Bewegung neigte dazu, spirituelle Aspekte, die nicht durch rationale Argumente gestützt wurden, abzulehnen. Infolgedessen geriet die Reliquienverehrung in den Fokus der Aufklärungskritik, was zu einem Rückgang ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und einer neuen Bewertung religiöser Praktiken führte.
Zwischen Wissenschaft und Glaube: Reliquienverehrung in der modernen Welt
In einer Zeit der Unsicherheit dient die Reliquienverehrung auch heute noch vielen Gläubigen als spiritueller Anker. Nach wie vor nimmt sie einen nicht unbedeutenden Teil des christlichen Glaubens ein. Laut Kümpergibt es nach wie vor eine stark ausgeprägte Heiligenverehrung, diese stehe aber nicht mehr zwingend im Zusammenhang mit Reliquienverehrung.
Dennoch dienen auch heute Reliquienschreine als Knotenpunkte, die Gläubige aus aller Welt vereinen und zugleich kulturelle Identität bewahren. Ein Beispiel dafür ist das Petrusgrab im Petersdom: Um das Grab von Petrus, einem der zwölf Apostel Jesu Christi, zu besuchen, nehmen viele Gläubige lange Pilgerreisen auf sich. Kümper hält aber auch fest, dass sich generell ein Rückgang der Reliquienverehrung verzeichnen lässt.
Kritiker der Reliquienverehrung heben Aberglaube und mögliche Manipulation hervor, während Skeptiker die Authentizität vieler Reliquien in Frage stellen. So wird im Christentum beispielsweise das Turiner Grabtuch verehrt, obwohl feststeht, dass diese Reliquie nicht tatsächlich das Leichentuch von Jesus Christus ist. Allerdings ist in diesem Falle nicht die Echtheit der Reliquie ausschlaggebend, sondern eher die Bedeutung, die sie für die Gläubigen hat.
In der modernen Welt lassen sich viele nicht-kirchliche Formen von Verehrung wiederfinden, zum Beispiel für ein Fußballtrikot, das vom Lieblings-Fußballspieler unterschrieben wurde und jetzt eingerahmt an der Wand hängt, für ein Plektrum, dass beim Metallica Konzert gefangen wurde oder für ein Selfie mit Taylor Swift. Reliquien sind nicht mehr die einzigen Gegenstände, aus denen Menschen Kraft, Trost oder emotionale Unterstützung anderer Art ziehen, deswegen haben sie in unserer heutigen Welt auch einen anderen Stellenwert.
Für diesen Text haben wir, Lea Linder und Sarah Istel, ein Interview mit Prof. Dr. Hiram Kümper, Historiker und Professor an der Universität Mannheim, geführt. Dabei wurden uns Online-Redakteurinnen die wichtigsten Fakten über die Geschichte der Reliquienverehrung erklärt. Weitere Informationen entstammen den folgenden Quellen:
Quellen:
- Quelle 1: Katholische Kirche Erzdiözese Wien, https://katholisch.de/startseite
- Quelle 2: “Menschenschädel als christliche Reliquien” von Ulrike Neurath-Sippel aus dem Sammelband “Schädelkult: Kopf und Schädel in der Kulturgeschichte des Menschen” herausgegeben von Alfried Wieczorek und Wilfried Rosendahl im Jahr 2011